Ukraine: Landwirte werden beim Getreideexport um Milliarden geprellt

Von den hohen Weltmarktpreisen für Getreide und Ölsaaten kommt bei den ukrainischen Bauern zu wenig an. Sie riskieren auf den Feldern täglich ihr Leben für die Ernte. Aber den Gewinn streichen andere ein. Die Bauern verlieren Milliarden. Ein deutscher Agrarökonom erklärt die Hintergründe – und fordert die EU zum Eingreifen auf. Prof. Stephan von Cramon-Taubadel

© Von Cramon-Taubadel Prof. Stephan von Cramon-Taubadel von der Universität Göttingen fordert die EU auf, den Agrarimport auf dem Landweg aus der Ukraine zu beschleunigen.

Der Krieg in der Ukraine trifft die Landwirte zwischen Lwiw und Charkiw hart: Raketeneinschläge, Minen auf den Feldern, zerstörte Infrastruktur und ein permanenter Mangel an Betriebsmitteln wie Dünger, Diesel und Arbeitskräften. Umso wichtiger ist es für die Betriebe, mit dem Export von Weizen, Mais und Sonnenblumenöl genug Geld zu verdienen, um Saatgut und Treibstoff für die Aussaat einkaufen und die Löhne zahlen zu können. Doch von den guten Weltmarktpreisen für Getreide und Ölsaaten kommt bei den Erzeugern wenig an. So wenig, dass der Göttinger Agrarökonom Prof. Stephan von Cramon-Taubadel in einem Kommentar auf agrardebatten.de die Europäische Union dringend auffordert, für einen reibungsloseren Ablauf der Agrarexporte zu sorgen. Agrarexportpotenzial der Ukraine wird unterschiedlich eingeschätzt

Denn in der Vermarktung der riesigen Mengen liegt das Problem. Das US-Landwirtschaftsministerium (USDA) schätzt das Exportpotenzial der Ukraine im aktuellen Wirtschaftsjahr 2022/23 auf 39,5 Mio. t Getreide, Ölsaaten sowie Öle und Schrote hieraus. Das wären zwar 24 Mio. t weniger als im Vorjahr, bedeutet unter der Belastung des Krieges aber noch immer eine gewaltige logistische Herausforderung. Cramon-Taubadel geht sogar davon aus, dass das Exportpotenzial eher 55 Mio. bis 60 Mio. t beträgt. Nach Einschätzung des Agrarökonomen liegt das US-Agrarministerium nämlich falsch, wenn es trotz Millionen von Flüchtlingen und geringeren Tierzahlen von einem Anstieg des inländischen Getreideverbrauchs um rund 7 Mio. t gegenüber dem Durchschnitt der Jahre 2017/18 bis 2020/21 ausgeht.

Export über den Schwarzmeer-Korridor läuft besser als erwartet

Doch selbst wenn die Ukraine 2022/23 „nur“ 39,5 Mio. t an Getreide und Ölsaaten ausführen wollte, würde das eine monatliche Exportmenge von 3,3 Mio. t erfordern.

Der Schwarzmeer-Korridor erwies sich seit seiner Öffnung Anfang August als deutlich leistungsfähiger als erwartet. Nach Angaben der ukrainischen Regierung haben bis Anfang Oktober 274 Schiffe mit 6,2 Mio. t landwirtschaftlicher Produkte die Häfen von Odessa, Chornomorsk und Pivdennyj verlassen. Das in Istanbul ansässige Gemeinsame Koordinierungszentrum (JCC) für das Abkommen geht inzwischen davon aus, dass über diese Häfen monatlich mehr als 4 Mio. t exportiert werden könnten. Hafenbetreiber in der Ukraine streichen riesige Marge ein Das ist für die ukrainischen Landwirte eine gute Nachricht. Das Problem ist jedoch, Hafenbetreiber und Händler zweigen nach Beobachtungen von Cramon-Taubadel eine Marge von rund 40 Euro/t ab. Während für frei Hafen angelieferten Mais etwa 220 Euro/t gezahlt werden, kostet dieser Mais nach der Verladung aufs Schiff 260 Euro/t fob. Von den 220 Euro müssen nach Einschätzung des Ökonomen für den Transport aus der Zentralukraine zum Hafen weitere 50 Euro/t abgezogen werden. Der Erzeugerpreis ab Hof schrumpft damit auf 170 Euro/t Mais zusammen. Somit beläuft sich die kumulierte Marge der Hafenbetreiber beim Export von bisher 6,2 Mio. t Agrarprodukten auf 248 Mio. Euro.

Sollten diese Kosten verringert werden können, würde der Erzeugerpreis um denselben Betrag steigen können, sagt Cramon-Taubadel. Ein einziger Raketenangriff könnte alles zunichtemachen Aber selbst dieser für die Landwirte mit hohen Abschlägen behaftete Exportweg ist in Gefahr: Das Abkommen über den Schwarzmeer-Korridor läuft Ende Oktober nach 120 Tagen aus. Angesichts der aktuellen Eskalation des Krieges, die Russlands Präsident Wladimir Putin zielstrebig vorantreibt, sind Zweifel angebracht, ob das Abkommen verlängert wird.

Dies gilt umso mehr, als Russland ein vitales Interesse daran hat, die eigene sehr große Getreideernte und die aus den annektierten Gebieten über das Schwarze Meer zu exportieren. Die ukrainischen Lieferungen auf den Weltmarkt zu unterbinden, würde Putin nur einen Raketenangriff kosten, warnt Cramon-Taubadel.Der Export über den Landweg stockt noch immer.Was bleibt, ist die alternative Route über Land. Doch trotz der Ankündigung der Europäischen Kommission im Mai, „Solidaritätskorridore“ für die Agrarausfuhren zu öffnen, ist die Situation auf den Landrouten aus Sicht von Cramon-Taubadel frustrierend.

Nach wie vor warten mit Getreide beladene Lkw auf ukrainischer Seite in der Regel mehr als fünf Tage auf die Grenzabfertigung. Ein Lkw mit 22 t Ladekapazität könne unter diesen Bedingungen pro Monat nur zweieinhalb Fuhren von Lwiw nach Rostock fahren statt normalerweise sechs Fuhren, schätzt der Ökonom. Bei einem Exportpreis von 330 Euro/t fob Gdansk müssten durch die verzögerte Abfertigung zwischen 95 und 225 Euro/t unnötige Transportkosten abgezogen werden, sodass der Erzeugererlös auf 105 Euro/t sinke. Zu regulären Logistikkosten könnte der Landwirt hingegen mit 200 Euro/t Erlös ab Hof kalkulieren. Landwirte verlieren 7 Milliarden Euro durch Transportchaos Bei 95 Euro/t zusätzlichen Logistikkosten entgehen den ukrainischen Landwirten nach Cramon-Taubadels überschlägigen Kalkulationen bei der diesjährigen Ernte von 73 Mio. t Getreide und Ölsaaten insgesamt rund 7 Mrd. Euro an Erzeugererlösen.

Für die nach wie vor extrem schleppende Abfertigung der Exporte auf dem Landweg macht Cramon-Taubadel zwei Faktoren verantwortlich: Zum einen die verbreitete Korruption unter den ukrainischen Zöllnern. Beobachter vor Ort berichteten davon, dass mit entsprechenden Schmiergeldzahlungen die Zollabfertigung beschleunigt werden könne, sagt der Göttinger Ökonom. Zum anderen würden auf EU-Seite unterbesetzte Grenzstationen und penible Kontrollen die Lkw aufhalten. Polen klagen über Preisdruck durch ukrainisches Getreide

Die Behörden in den angrenzenden Mitgliedstaaten Polen und Rumänien, aber auch in Bulgarien haben offenbar wenig Interesse an einer beschleunigten Einfuhr von Getreide und Ölsaaten aus der Ukraine. Angeblich drücken die Importe die Getreidepreise im Osten Polens schon jetzt um 40 Euro/t unter das Preisniveau im Westen des Landes. Cramon-Taubadel fordert die EU darum auf, hier in Zusammenarbeit mit den polnischen Behörden Abhilfe zu schaffen. Die Grenzstationen müssten personell besser ausgestattet werden. Außerdem sollte die EU dafür Sorge tragen, dass die ukrainischen Agrargüter nicht kurz hinter der Grenze geballt auf den Markt kommen, sondern über den europäischen Binnenmarkt und die internationalen Ausfuhrhäfen gleichmäßig vermarktet werden. Die Zeit für eine Lösung läuft ab Befristete Hilfsmaßnahmen für die Landwirte in Grenznähe zur Ukraine könnten zudem den politischen Druck aus der angespannten Lage herausnehmen. Die Zeit drängt, warnt Cramon-Taubadel. Viele ukrainische Landwirte hätten nicht genug liquide Mittel, um die Winteraussaat zu finanzieren. Sie würden nun hoffen, im Frühjahr 2023 mehr Sommerkulturen anbauen zu können. Doch dafür brauchen sie dringend höhere Erlöse aus dem Agrarexport. (Quelle: agrarheute)